TEIL ZWEI - ZUHÖREN LERNEN
Tamara Lunger ist eine bekannte Bergsteigerin aus Südtirol. Als Mitglied der italienischen Nationalmannschaft im Skibergsteigen gewann sie mehrere Titel und bestieg als jüngste Frau den Gipfel des Lhotse (8.516 m). Im ersten Teil dieses Interviews unterhielten wir uns über ihren Weg vom Skitourenrennen zum Höhenbergsteigen im Himalaya und ihre besondere Partnerschaft mit Simone Moro.
Im zweiten Teil spricht Tamara über Verlust und Leid in den Bergen und was ihre traumatischen Erlebnisse mit ihr gemacht haben.
Tamara hoch über Chamonix (Foto: Philipp Reiter)
Hattest du außer am Manaslu noch andere Expeditionen, bei denen du kurz vor dem Ziel aufgeben musstest?
2016 auf dem Nanga Parbat (mit 8.126 m der neunthöchste Berg der Erde in Pakistan). Wir wollten als erstes Team den Gipfel im Winter besteigen. Ich wollte das unbedingt schaffen. Aber am Morgen der Gipfelbesteigung fühlte ich mich nicht besonders, ich wusste gleich, dass es nicht mein Tag war. Meine Muskeln waren schwer, aber ich wusste, dass ich Kraft brauchen würde. Ich dachte zurück an meine Renntage und gab alles. Nur 70 m unterhalb des Gipfels musste ich aber umkehren, weil eine innere Stimme mir sagte: „Wenn du jetzt auf den Gipfel gehst, kommst du nicht mehr heim.“
Das Gefühl war so klar und intensiv, dass ich es nicht infrage stellte, ich wusste, was ich zu tun hatte, ich musste zurückgehen. Beim Abstieg stürzte ich und dachte noch: „So, das war‘s jetzt!“ In dem Moment kam es mir so vor, als wäre ich bereits gestorben. Ich hatte keine Angst vor dem Sterben, ich hatte nur Angst, dass es brutal wehtun würde. Unter mir waren 3.000 m Eis, Fels und Schnee, die würden mich in Stücke reißen.
Das hast du gedacht, als du den Abhang hinuntergestürzt bist?
Ja, aber dann hat ein weicher Schneehaufen meinen Sturz gestoppt. Die Sonne ging gerade unter und ich saß da, mein Puls war bei 250, glaube ich, und ich dachte: „Okay, das ist jetzt mein zweites Leben.“ Ich musste es aber immer noch zurück ins Lager schaffen, was mir auch gelang.
Meinen großen Traum, als erste Frau eine Winterbesteigung zu schaffen, konnte ich mir nicht erfüllen, aber die anderen im Team, Simone Moro, Alex Txikon und Ali Sadpara, erreichten den Gipfel. Das war meine erste große Begegnung mit meiner inneren Stimme. Bis dahin war Intuition für mich so ein „Frauending“, ich wollte nicht darauf hören. Ich dachte immer, dass es mich davon abhält, stark zu sein. Stattdessen habe ich mir immer noch mehr abverlangt. Ich führte einen Kampf gegen meinen eigenen Körper. Ich sagte zu ihm: „Wenn du Schmerzen hast, dann kriegst du noch mehr. Dann musst du noch härter arbeiten!“
Wolltest du damit etwas beweisen?
Ja. Ich wollte die absolute Kontrolle über meinen Körper. Ich war ein Sklave meines Kopfes, der mir sagte: „Mein Körper ist zu schwach.“ Ich musste mich jeden Tag beweisen. Es war sehr hart, die ganze Zeit dieses Gefühl zu haben. Ich habe „normale Leute“ beneidet, die nicht so getrieben waren. Es war mir ein Rätsel, wie sie in ihrem Alltag so zufrieden sein konnten. Ein Teil von mir wollte das auch.
Viele Leute sagten mir, ich solle meinen Körper nicht so übertrieben fordern, aber das wollte ich nicht hören. Im Sportstudium habe ich zwar in der Theorie gelernt, wie man richtig trainiert, aber ich sagte mir immer, dass das für mich nicht gilt.
Du bist ein sehr religiöser Mensch. Denkst du, dass deine Intuition am Nanga Parbat Gott war? Oder war es eine innere Stimme?
Es war eine innere Verbindung zu Gott und zur Natur. Ich glaube, das war eine Verbindung zu dieser großen Energie des Universums, von der wir alle ein Teil sind. Es war das erste Mal, dass ich diese innere Stimme bewusst wahrnahm und hörte, was die große Energie mir sagen wollte. Das war ziemlich krass für mich, weil die Stimme ja mein Leben gerettet hat. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass ich nicht mehr leben würde, wenn ich nicht auf die Stimme gehört hätte.
Du hast dein großes Ziel zwar nicht geschafft, aber du hast in diesem Moment ein anderes wichtiges Ziel erreicht, das eigentlich ein großes Geschenk für dein restliches Leben war. Als du nach dieser Erfahrung wieder nach Hause gekommen bist, konntest du das Gefühl mitnehmen?
Die Zeit danach war sehr schwer für mich, weil es zu Hause eine große Geschichte war. Es war fast so, als würde mein „Scheitern“ das Ganze noch romantischer machen. In den Medien klang es so, als hätte ich mich für den Erfolg der anderen geopfert. Darüber war ich sehr wütend, denn da oben auf 8.000 m, im Winter, muss jeder selber schauen, dass er überlebt.
Im Grunde ist man gemeinsam auf sich selbst gestellt.
Die Person, der ich mich da oben am nächsten fühlte, war Gott. Ich habe die ganze Zeit mit ihm geredet, so als würde er neben mir hergehen. Die anderen waren zwanzig Meter von mir entfernt, und trotzdem verspürte ich eine Einsamkeit, wie ich sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Ich wusste, dass wenn ich mir ein Bein brechen würde, könnte mir niemand helfen, das würde ich auch nicht erwarten – und die anderen würden das auch nicht. Ich war selbst für mein Leben verantwortlich.
Ich suchte immer ein Leben am Limit, und da oben fand ich es. Ich wollte nie ins flache Wasser. Ich wollte Wellen, große Wellen. Ich wollte immer meine Grenzen ausloten: „Das läuft zu gut, das muss ein bisschen mehr wehtun“, verstehst du?
Hat dieses Erlebnis dazu geführt, dass du noch mehr Vollgas gegeben hast?
Im Winter 2020 bin ich mit Simone auf den Gasherbrum (mit 8.080 m der elfthöchste Berg der Erde in Pakistan), da hatten wir es mit einem echt sehr schwierigen Gletscher zu tun. Wir brauchten 18 Tage für 500 Höhenmeter. Am 18. Tag stürzte Simone in eine Gletscherspalte. Ich hatte keine Zeit zu reagieren. Wir hatten Schneeschuhe an und ich habe meinen Eispickel nicht in die Hand bekommen. Ich bin wie Superwoman geflogen. Ich flehte Gott an: „Bitte stoppe mich!“ Am Rand der Spalte bin ich liegen geblieben. Das war so unglaublich schmerzhaft! Er hing direkt unter mir. Das Seil mit seinen 90 kg war um meine Finger gewickelt. Ich schrie vor Schmerzen: „Simone, schneid das Seil ab, wenn du sicher bist“, aber er konnte mich nicht hören. Und ich konnte nicht aufhören zu schreien. Nach vielleicht fünf Minuten gelang es ihm, eine Eisschraube zu setzen und das Seil zu entlasten, ich konnte endlich meine Finger befreien, aber meine Hand war hinüber, ich musste alles mit dem Mund und der anderen Hand machen. Außerdem hatte ich Angst vor Gletscherspalten, deshalb habe ich mich nicht viel bewegt. Irgendwann haben wir ihn herausbekommen, und zum Glück ging es ihm weitestgehend gut.
Das muss ein schlimmes Erlebnis für dich gewesen sein.
Nach dieser wieder sehr knappen Situation waren da viele Fragezeichen in mir. Ich fragte mich, wie es beim nächsten Mal wohl ausgehen wird. Im Winter darauf wurde ich gefragt, ob ich mich einer Expedition an den Manaslu (mit 8.163 m der achthöchste Berg der Erde in Nepal) anschließen wolle, aber ich lehnte ab. Ich habe gespürt, dass ich nochmal zum K2 muss, aber diesmal im Winter, sodass ich anfing, mich mental darauf vorzubereiten.
Tamara über dem Vallee Blanche in Chamonix (Foto: Philipp Reiter)
Was bedeutet das? Arbeitest du mit einem Sportpsychologen zusammen? Meditierst du? Oder betest du?
Damals habe ich keine Therapie gemacht. Ich habe jetzt mit einer Traumatherapie begonnen, aber damals nicht. Ich habe meditiert und trainiert, um die mentale und körperliche Stärke aufzubauen, die ich für eine schwierige Expedition brauchte. Mit dem Partner, mit dem ich die Expedition ursprünglich machen wollte, hat es nicht geklappt, sodass ich meine Pläne ändern musste.
Das Ganze war von Anfang an schwierig. Wir mussten zusehen, wie Sergi Mingote in unseren Händen starb. Es hat uns das Herz und die Seele zerrissen. Schließlich entschied ich mich, mit Sergis Partner weiterzugehen, mit JP Mohr aus Chile. Wir haben uns gegenseitig sehr gebraucht, weil es ein so intensives Erlebnis war. Wir haben zusammen geweint und getrauert. Wir waren uns sicher, dass Sergi auf uns aufpassen würde. Er würde uns Kraft und Energie schicken, also sind wir los. Aber ich hatte fürchterliche Magenprobleme und konnte kaum etwas essen. Ich wusste, dass ich nicht in Bestform war. Also sagte ich mir: „Okay, ich probiere es, aber ich muss auf meine Intuition hören. Ich muss von Tag zu Tag entscheiden.“ Also schleppte ich mich weiter, aber nach drei Tagen war mir klar, dass das nicht mein Moment war.
Du musstest ein traumatisches Erlebnis verkraften. Glaubst du, dein Körper hat darauf reagiert?
Ja, mein Körper hat definitiv darauf reagiert. Als Simone damals in die Gletscherspalte stürzte und jetzt wieder als Sergi starb, habe ich meine Tage bekommen, obwohl ich sie erst zwei Wochen zuvor hatte. Da habe ich verstanden, wie dein ganzes Sein von emotionalen Ereignissen berührt wird.
Der Körper reagiert tatsächlich auf traumatische Erlebnisse.
Ich habe alles versucht, um wieder zu Kräften zukommen, ich habe meditiert, mich ausgeruht, aber meine Intuition hat mir gesagt, dass es nicht meine Zeit ist. Irgendwann dachte ich mir: „Vielleicht sollen all diese Probleme mir eigentlich helfen.“
Aber selbst der Abstieg war gefährlich. Es gab noch einen Unfall, ein Bergsteiger stürzte 1.600 Meter nach unten in den Tod. Zurück im Basislager hatten wir immer noch nichts von den Dreien oben auf dem Berg gehört, das hat mir unglaublich zugesetzt. Das Warten war eine Qual. Irgendwann war dann klar, dass sie nicht mehr zurückkehren würden. Da ist in mir etwas zerbrochen. Ich konnte meinen Körper nicht mehr spüren und weinte völlig unkontrolliert. Es war schrecklich.
So viele Verluste und schlimme Erlebnisse in so einer kurzen Zeit!
Ja. Sergi, JP und ich standen einander wirklich nah. Wir waren auf der gleichen Wellenlänge. Wir lachten viel, waren immer gut gelaunt und lustig. Wir haben Pläne für die Zukunft gemacht, es war einfach magisch. Und dann sind sie beide gestorben!
Ich habe mir natürlich viele Fragen gestellt. „Warum muss das mir passieren?“ „Was tue ich hier?“ „Warum muss aus etwas Schönem immer etwas Schlimmes werden?“ Die Zeit danach war die schwerste meines Lebens.
Ich hatte zwei wirklich extrem harte Jahre. Ich war unglaublich traurig, habe viel geweint und 10 Kilo zugenommen. Mit den Bergen war ich fertig. Ich wollte die Kälte nicht mehr spüren, die Erschöpfung. Aus, vorbei! Ich wollte mit niemandem mehr reden. Ich wollte nur meine Ruhe.
Es tut mir so leid, dass du das erleben musstest. Ich weiß, wie das ist. Meine Frau starb in einer Lawine, als wir zusammen beim Skifahren waren, ich kann mir also gut vorstellen, wie du dich gefühlt hast. Ich weiß, wie es ist, wenn man mit niemandem darüber reden kann und denkt, dass niemand versteht, was man durchmacht. Ich kann total nachempfinden, wie es dir damals ging. Es ist schwer. Sehr schwer. Schwer und einsam. Mit Traumatherapie kenne ich mich aus.
Oh, das tut mir leid!!! Ja, die Therapie hat mir sehr geholfen.
Sie ist definitiv eine große Hilfe, aber du musst erst bereit sein, die Hilfe anzunehmen.
Ja, man muss erst etwas Zeit verstreichen lassen, denn am Anfang habe ich einfach nur geweint.
Stimmt, am Anfang sind die Emotionen noch zu roh, zu zerbrochen.
Ja. Jeder Song, jede Kleinigkeit erinnert dich an den Moment und du fängst an zu weinen.
Ja, und dann schämst du dich, weil du die ganze Zeit nur weinst, und du glaubst, dass alle dich anschauen.
Zum Glück habe ich eine gute Beziehung zu meiner Familien. Sergis Frau hat meine Nähe gesucht. Ich war der letzte Mensch, der ihn gehalten hat, also hat sie durch mich an ihm festgehalten.
Das war bestimmt auch schwer.
Ja, es war schwer, aber nach einer Zeit hat sich in ihr etwas verändert, und ich habe gespürt, dass es ihr nach und nach besser ging. Irgendwann sagte sie zu mir: „Tamara, man hat mir zwar Sergi genommen. Aber dafür hat Gott mir dich gegeben.“ Das waren die liebsten Worte, die ich im Leben je gehört habe. Ich war sehr dankbar dafür.
Tamara freut sich mit Kursteilnehmern bei der Arc’teryx Alpine Academy (Foto: Philipp Reiter)
Die Zeit mit Sergis Frau war für dich dann auch heilsam?
Ja. Irgendwie habe ich bei all dem eine Antwort auf meine Fragen gefunden. Mir wurde klar, dass ich kaum jemals auf meine eigenen Bedürfnisse geachtet habe. Ich war mehrere Male dem Tod sehr nahe und habe trotzdem nicht aufgehört. Ich wollte immer noch mehr.
Ich glaube, ich brauchte diese intensiven Schmerzen, um mir eine Pause gönnen zu können. Ich war ganz unten und musste mich langsam wieder aufbauen, was am Anfang sehr schwer war, weil ich mein ganzes Leben infrage gestellt habe. „War das alles wirklich ich oder wollte ich mich nur beweisen? Bin ich wirklich eine Bergsteigerin? Liebe ich die Berge wirklich?“ Ich zweifelte alles an.
Und dann, nach einem Jahr, fingen die Menschen an zu vergessen. Ständig wurde ich gefragt: „Wann gehst du wieder auf einen Gipfel?“ Und ich dachte nur: „Warum müssen wir wie Maschinen funktionieren? Warum darf man sich keine Zeit zum Trauern nehmen?“ Gleichzeitig wollte ich aber der Mensch sein, den andere in mir sahen, also fing ich wieder an zu trainieren. Aber nach zwei Wochen hatte ich so heftige Rückenschmerzen, dass ich mir nicht mal das Gesicht waschen konnte. Ich wusste, dass das jetzt passiert ist, weil ich nicht auf mich gehört habe, also habe ich wieder aufgehört. Ich bin zur Physiotherapie, habe aber sonst keinen Sport gemacht. Insgeheim war ich froh darüber, so hatte ich eine Entschuldigung, um nicht mehr trainieren zu müssen!
Aber nach einem halben Jahr fing ich dann doch wieder an. Ich wusste, ich musste es langsam angehen, damit es nicht wieder wird wie zuvor. Keine zwei Wochen später habe ich mir den Knöchel verstaucht und mir zwei Bänder gerissen. Nach einer Weile habe ich wieder angefangen und mich prompt nochmal verletzt. Ich dachte: „Du bist so ein Idiot, du bist halt einfach noch nicht bereit.“ Im Laufe der Zeit hat sich meine Sichtweise verändert. Ich habe mich auch mit anderen Seiten von mir beschäftigt. Ich habe eine Traumatherapie begonnen und mir Gedanken über meine Beweggründe gemacht, über diesen offensichtlichen inneren Leistungszwang. Ich bin noch mittendrin in dieser Phase der Selbstfindung.
Was hast du bislang entdeckt?
Ich und die Menschen um mich herum haben ein Bild von Tamara geschaffen, das Bild von einer Hochleistungssportlerin, von einer starken und zähen Frau – und diese Frau wollte ich sein. Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich mir als Mensch nie besonders wichtig war, sondern nur als Athletin.
Diese Erkenntnis war schmerzhaft. Ich hatte das Gefühl, dass ich dieses alte Ich begraben muss, um mich wieder neu aufbauen zu können. Bis dahin wollte ich immer Leistungssportlerin sein, aber ich spürte, dass sich da gerade etwas veränderte. Ich wollte mich nicht mehr nur durch meine Leistung definieren. Ich musste mich selbst lieben. Meinen Körper. Ich musste mehr meditieren, mehr dehnen, mehr Core-Training machen, mehr auf mich achten. Aber es ist nicht so einfach, sich zu ändern.
Ich habe auch einen Archetypen-Test gemacht, was mir sehr geholfen hat, mich besser zu verstehen. Dabei sagte mir jemand: „Ich gebe dir noch ein Jahr zu leben, wenn du nicht imstande bist, deine weibliche Energie anzunehmen.“ Das hat einen sehr wichtigen Prozess ausgelöst, aber es war auch sehr hart für mich, mein neues Ich anzunehmen, weil ich auch dachte: „Okay, ich habe als Athletin Sponsoren, die haben vielleicht Erwartungen an mich, was ich tun soll, wie ich mich verhalten soll.” Das Gewicht dieser Erwartungen kann ich förmlich spüren. Und ich bin noch dabei herauszufinden, wie ich damit umgehen soll.
Möchtest du wissen wie es weiter geht? Dann lies jetzt den dritten Teil des Artikels!