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    TAMARA LUNGER – LIEBE UND AKZEPTANZ INMITTEN DER TRAGÖDIE - Teil 3

    Adam Campbell
    Adam Campbell

    TEIL DREI – LIEBE, VERÄNDERUNG UND VERTRAUEN

     

    Tamara Lunger ist eine bekannte Bergsteigerin aus Südtirol. Als Mitglied der italienischen Nationalmannschaft im Skibergsteigen gewann sie mehrere Titel und bestieg als jüngste Frau den Gipfel des Lhotse (8.516 m). Im zweiten Teil dieses dreiteiligen Interviews sprach Tamara über Verlust und Leid in den Bergen und was ihre traumatischen Erlebnisse mit ihr gemacht haben. In diesem dritten und letzten Teil erzählt Tamara, wie sie nach der Tragödie Liebe und Akzeptanz gefunden hat.

     

     
    Fühlst du dich heute geerdeter oder kommt das Verlangen nach großen Wellen immer noch hoch?

    Ich habe das Gefühl, dass ich mich inzwischen besser verstehe, aber ja, manchmal verspüre ich noch den Drang, mich selbst zu zerstören, aber ich verstehe die Konsequenzen jetzt besser.

     

    Hast du schon mal versucht, dich beim Meditieren selbst zu zerstören? Indem du beispielsweise 10 Tage lang meditierst?

    Nein, noch nicht. Du?

     

    Ich? Nein, ich auch noch nicht. Ich habe zu viel Angst. Angst vor dem Stillsitzen. Aber ich glaube, es wäre eine besondere Herausforderung, weil es so sehr im Gegensatz zu dem steht, wie ich glaube zu sein. Es fällt mir sehr leicht, mich einer körperlichen Herausforderung zu stellen, aber emotionale Herausforderungen machen mir Angst. Man macht sich dabei verletzlich, das finde ich beängstigend. Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit oder in der Lage bin. Vielleicht habe ich Angst, zu versagen. 

    Ja! Es erfordert viel Übung. Ich hatte nie Angst vor körperlichen Herausforderungen, aber bei den mentalen Sachen habe ich mich immer rausgeredet mit: „So bin ich halt.“

    Als dann der Lockdown kam, habe ich überlegt, wie ich das überstehen soll, und sagte mir: „Für mich ist keine körperliche Herausforderung groß genug, aber für meine mentalen Schwächen suche ich ständig Ausreden. Das muss sich ändern.“ In dieser Zeit habe ich mich stark verändert, indem ich an meiner mentalen Einstellung gearbeitet habe.

     

    Hat sich deine Definition von Erfolg in den Bergen verändert? 

    Ich glaube ja. Wenn das Ziel nicht mehr ist, sich beweisen zu müssen, sondern wenn du das nur aus Liebe machst, dann eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten.

     

    Haben deine Erlebnisse dich sonst noch verändert? 

    Nach dem K2 hatte ich große Angst vor dem Sterben. Ich habe diese Angst immer und überall gespürt.

     

    Das muss sehr schwer für jemanden wie dich sein, die es gewohnt ist, in jeder gefährlichen Situation einen höheren Sinn zu sehen.

    Ich hatte sehr schwierige Zeiten, war depressiv. Das Leben hat an Bedeutung verloren. Bis dahin war ich wie ein Kind, das neue Erfahrungen machen und neue Sachen ausprobieren wollte. Nach dem K2 habe ich mich gefühlt, als hätte mir jemand mein Leben weggenommen. Ich sah überall nur Gefahren. Ich hatte Angst vor dem Radfahren, weil man ja mit dem Kopf auf den Boden krachen kann. Ich hatte immer Angst vor Lawinen. Selbst zu Fuß hatte ich Angst und dachte: „Meine Güte, diese Autos fahren so schnell, die könnten mich umbringen.“ Es war hart, ich wollte mein altes Leben zurück.

    Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Ich bin schon ein kleines Stück vorwärts gekommen, aber in den Bergen habe ich viel mehr Angst. Zum ersten Mal hatte ich richtig Angst vor exponierten Stellen. Manchmal kommt es mir so vor, als würde mir ein Teil meines Leben langsam entgleiten.

     

    Kannst du in den Bergen noch Schönheit sehen oder nur noch Gefahren?

    Ja, kann ich, weil ich den K2 immer noch liebe. Ich liebe diesen Berg, obwohl er mir so viel genommen hat, weil er mir auch so viel gegeben hat. Vielleicht wäre ich ohne ihn nicht mehr am Leben. Keine Ahnung. Man weiß es nicht. 

    Auf dem K2 hatte ich ein sehr seltsames Erlebnis. Mein Puls war hoch, ich habe hyperventiliert. Ich legte mich hin und dann sah ich sie, die Göttin des K2. Sie war eine wunderschöne Frau mit lockigem Haar und einem sehr friedlichen Gesicht. Sie schwebte über dem Berg, in ihrer weißen Tunika, die bis ins Lager II hinab wehte, und ich stieg unter ihrem Rock auf. Ich war ganz allein, hörte sie aber sagen: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich beschütze dich vor dem Wind, vor der Kälte, vor allem.“ Aber ich war immer allein. Jetzt ergibt das für mich einen Sinn, denn alle Menschen, die mit mir da oben im Basislager waren, sind nicht mehr bei uns, nur ich habe irgendwie überlebt. Ich habe das Gefühl, dass sie auf mich aufpasst.

     

     

    Tamara Lunger voller Glück in ihrem Element (Foto: Philipp Reiter)

     

    Würdest du nochmal zurückkehren, zumindest zum Basislager?

    Ich bin nochmal zurückgekehrt. Wir haben im nächsten Sommer eine Trauerfeier gemacht. Es war alles so vertraut: der Platz, an dem unser Zelt stand, der Fels, an dem JP gebouldert hat. Ich berührte den Fels, um ihn zu spüren.

    Wir waren eine recht große Gruppe, vielleicht zwanzig Leute, und wir hielten eine Gedenkfeier. Außerdem haben wir eine Gedenktafel für sie aufgehängt. JPs Cousin trug einen Rap vor und jeder nahm auf seine Weise Abschied.  Sein Cousin sagte da zu mir, dass er sehr dankbar dafür ist, dass ich der letzte Mensch war, der bei ihm war. Das war wunderschön. Ich habe geheult wie ein Wasserfall, aber ich habe mich zugleich auch leichter gefühlt. JP und ich hatten eine ganz besondere Verbindung zueinander, deshalb hat mich das extrem stark berührt.

     

    Wie war es, wieder nach Hause zu kommen? 

    Diese Zeit war sehr schwer für meinen Freund Davide. Ich habe viel geweint, konnte sehr distanziert sein, aber irgendwann habe ich ihm mein Herz ausgeschüttet. Das war auch für ihn schwer, denn er liebte mich und konnte meinen Schmerz und meinen Verlust spüren. Aber er war da für mich, redete mit mir, hielt mich. Er war da, als ich ihn brauchte. Er hat mir unglaublich geholfen, das durchzustehen. Er akzeptierte mich so, wie ich war, mit allem, was ich durchmachen musste und immer noch muss. Inmitten dieser Tragödie fand ich Liebe, Akzeptanz und Schönheit.

     

    So ist das Leben, oder?  Du hast die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühle erlebt, von Liebe zu Tod und Verlust, und das in jungen Jahren. Die meisten Menschen erleben das erst sehr viel später in ihrem Leben. Es ist eine sehr brutale Schönheit.

    Ich weiß, dass sie da oben immer für mich da sind, wenn ich eine schwere Zeit habe. Ich spreche mit ihnen und stelle ihnen Fragen.

     

     

    Tamara freut sich mit Kursteilnehmenden bei der Arc’teryx Alpine Academy (Foto: Philipp Reiter)

     

    Ich freue mich sehr für dich, dass du jemanden gefunden hast, der dich mit allem, was du durchgemacht hast, akzeptiert und dich unterstützt. Und ich freue mich auch, dass es dir gelingt, dein Ich zu erkunden. Ich glaube, dass in deiner neuen Verletzlichkeit eine große Stärke liegt, und das bewundere ich sehr. Es verleiht den Menschen Kraft, wenn jemand wie du seine Geschichte erzählt. Dadurch fällt es ihnen leichter, ihr eigenes Leben zu reflektieren. Wenn jemand wie du, eine „hartgesottene Alpinistin“, so offen sein kann, dann können sie es vielleicht auch.

    Ich mache das wirklich gerne, weil es die Herzen der Menschen berührt. Bei meinen letzten Vorträgen hat das ganze Publikum geweint, ich eingeschlossen. Der Organisator kam ebenfalls weinend zu mir und hat mich umarmt. Ich merke, dass in meiner Geschichte eine große Kraft steckt. Ich kann die Menschen inspirieren, weil sie sehen, dass selbst wenn man harte Zeiten hat und sich selbst verliert, dann kann man trotzdem noch Frieden finden, vielleicht sogar einen größeren Frieden.

     

    Ist es schwer, für andere eine Inspiration zu sein? Würdest du das wieder hergeben, wenn du dafür Sergi und JP zurückbekommen könntest?  

    Ich glaube, das Schicksal wollte, dass ich jetzt genau hier bin. Ich akzeptiere das. Es hat mir auch meinen Partner Davide geschenkt, und ich könnte mir keinen verständnisvolleren Menschen für mich vorstellen.

     

    Man muss schon ein sehr starker Mensch sein, um Verlust und Trauer anzunehmen und als Geschenk zu betrachten. Du hast die Gabe, deine Gefühle sehr gut ausdrücken zu können. Vielen Dank dafür! Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir solche Gespräche führen. Deine sportlichen Leistungen sind unglaublich, aber jetzt sprichst du über das Leben und deine Gefühle. Siehst du dich immer noch als Profisportlerin oder als etwas anderes? 

    Ja, aber wie genau es für mich als Athletin weitergeht, ist noch eine Grauzone. Ich habe mit einigen älteren Athleten darüber gesprochen, wie sie den Übergang gemeistert haben. Als Athlet versuchst du ständig, dich weiterzuentwickeln, du veränderst dich. Wie fühlt man sich in den verschiedenen Phasen? Wie sollte man sich fühlen? Ich sehe mich nicht mehr als diese Maschine, die es immer höher und schneller braucht, ich will etwas anderes sein, aber was genau ist das? Ich habe immer noch Angst, meine Identität zu verlieren, deshalb muss ich mir noch Raum und Zeit geben. Ich weiß noch nicht, ob ich wieder so werden kann, wie zuvor, so komplett ohne Angst. Ich bin immer noch dabei, mich selbst kennenzulernen und herauszufinden, wer ich sein möchte. 

     

    Vielleicht kannst du die Göttin fragen, was du tun sollst?  Ich glaube, du hast noch viel zu geben. 

    Ja. Ich brauche es immer noch, aus meiner Komfortzone herauszugehen, das ist immer noch ein Teil von mir und braucht Raum. Ich verspüre sogar den Wunsch, wieder zu studieren. Und Menschen zu helfen.

     

    Ich habe das Gefühl, dass wenn es bei dir funkt, wenn die Energie dich ergreift, dann schaffst du das. 

    Ich möchte schon auch immer noch in den Bergen sein, aber natürlich will ich auch immer mein Bestes geben. Ja, das ist mir wichtig.

     

    Glaubst du, das ist ein Widerspruch, einfach nur draußen sein zu wollen und dein Bestes zu geben? Sind das entgegengesetzte Dinge?

    Meine Sichtweise darauf hat sich ein wenig verändert, denn früher ging es in den Bergen bei mir vor allem um den Sport. Jetzt schaue ich viel mehr auf die Natur. Früher war ein Tag ohne Berge für mich ein verlorener Tag. Das sehe ich jetzt nicht mehr so. Jetzt sehne ich mich nach dem Gesamterlebnis. Früher wollte ich einfach nur rennen, leiden, schwitzen.  Aber jetzt höre ich den Vögeln zu und genieße alles, was mich umgibt. Das gibt mir so viel mehr. Ich trainiere auch noch, aber meiner Intuition folgend, nicht mit Plan. Ich lerne, auf meine innere Stimme zu hören. Ich versuche, intuitiver zu sein. Früher war ich immer sehr hart zu mir, aber jetzt mache ich es mit Liebe – und ich fühle mich in meinem Körper viel wohler. Ich habe weniger Schmerzen. Mein ganzes Ich fühlt sich besser, vollständiger an. Ich vertraue mir mehr.

     

    Versuchst du, dein körperliches und dein emotionales Selbst im Training zusammenzubringen? 

    Seit dem K2 hasse ich das Wort „Training“. Ich nenne es stattdessen meine besondere Beziehungszeit.

     

     

    Tamara in den Alpen (Foto: Philipp Reiter)

     

    Hast du wieder das Gefühl, dass die Berge dich rufen? 

    Ja, ich will zwar nicht mehr im Winter auf die hohen Berge, aber ich würde es gerne wieder mit einem 8.000er versuchen, mit meiner neuen Perspektive. Ich möchte den Unterschied spüren. Gleichzeitig weiß ich nicht, ob ich meine Kraft behalten kann, inmitten dieser Menschenmassen und dem ganzen Theater in der Hochsaison. Aber vielleicht muss ich mich nur richtig gut vorbereiten und einen schwierigeren Weg probieren, aber dafür brauchst du einen wirklich starken Partner und eine gute Seilschaft. Manchmal ist es schön, allein unterwegs zu sein, aber ich teile total gerne meine Erlebnisse und fühle mich zu zweit auch sicherer. Vielleicht versuche ich es mal mit einem weiblichen Partner.

     

    Hast du schon jemandem im Kopf? 

    Ich werde mit Caro North nach Südamerika fahren, bislang haben wir eine sehr gute Verbindung.

     

    Das ist großartig, da seht ihr, ob die Chemie zwischen euch passt. Sind die 7.000er oder 6.000er auch eine Möglichkeit, um etwas von den Menschenmassen wegzukommen? 

    Für mich waren die Achttausender immer die Königsdisziplin.

     

    Vielleicht brauchst du eine Königinnendisziplin?

     Ja, vielleicht (lacht)

     

    Tamara, vielen Dank für deine Zeit und deine Offenheit – sollen wir uns noch ein Bier holen?

    Ja, unbedingt!

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